Wäre es nicht praktisch, wenn ein Pferd ein Schlüsselbein hätte? Dann wäre es im Rumpf stabiler und wir müssten uns nicht so sehr um Trageerschöpfung und Rumpfabsenkung sorgen.
Richtig, dafür könnten wir uns Gedanken machen, wie man Pferden ein gebrochenes Schlüsselbein schient. Zeit dazu hätten wir, denn Reiten, geschweige denn Springen und Galoppieren, wäre dann kaum möglich.
Spaß beiseite.
Warum haben Pferde – genauso wie Hunde, Katzen und Paarhufer usw. – eigentlich kein Schlüsselbein?
Das Hauptargument ist wohl die Stoßdämpfung. In schnelleren Gangarten, beim Flüchten, Kämpfen oder Spielen, würde und müsste das Schlüsselbein den Aufprall von mehreren 100 kg auffangen und von den Vorderbeinen auf den Brustkorb übertragen. Kaum eine der knöchernen Verbindungen würde dies auf Dauer aushalten. Bei Hunden oder Katzen ist das Körpergewicht zwar deutlich geringer, dafür sind ihre Sprünge und Bewegungen bei der Jagd viel dynamischer.
Indem Pferde kein Schlüsselbein haben, sondern ihr Rumpf allein durch Muskeln und Faszien mit dem Vorderbein verbunden ist, kann die Aufprallenergie hervorragend abgefangen und für eine effiziente Fortbewegung genutzt werden. Die kollagenen und elastischen Fasern der Faszien absorbieren diese Energie und speichern sie in elastischer Form. Damit kann ein Teil der Aufprallenergie wie bei einer Feder für den nächsten Schritt genutzt werden. Die muskulären Anteile der Rumpf-Bein-Verbindung dämpfen ihrerseits durch aktive Kontraktion einen Teil der Aufprallenergie.
Ein Pferd hat kein Schlüsselbein, aber den M. serratus ventralis als dynamischen Rumpfträger.
Der Hauptrumpfträger ist der M. serratus ventralis. Er ist die wichtigste Verbindung zwischen Rumpf und Vorderbein. Der Serratus ventralis ist ein fächerförmiger Muskel, der von der Innenseite des Schulterblattes kommend fächerförmig an die letzten 3 Halswirbel und die ersten 8-9 Rippen zieht.
Damit hängt er den Rumpf vereinfacht gesagt zwischen den Vorderbeinen auf. Um dieser Daueraufgabe energieeffizient lösen zu können, ist vor allem der Rumpfteil des Serratus ventralis stark sehnig durchsetzt.
In der Bewegung, in Momenten stärkerer Belastung wie Trab, Galopp oder beim Landen, wird der Serratus ventralis von der Brustmuskulatur unterstützt. Diese hängt den Brustkorb von unten am Schulterblatt und Oberarm auf. Im Gegensatz zum Serratus ventralis ist sie aber nicht so sehnig durchsetzt, also nicht auf Dauerarbeit ausgelegt.
In der Funktion als Stoßdämpfer wird der Serratus ventralis wesentlich durch die Sehnen unterstützt. Diese tragen einen großen Teil zur Entlastung der Knochen und Gelenke des Vorderbeines sowie der effizienten Fortbewegung bei, indem sie die Aufprallenergie elastisch speichern und Stöße dämpfen. Mehr über deren Aufgabe und Funktion findet Ihr in meinem Artikel Was sind eigentlich die Beugesehnen und warum ist der Fesselträger so wichtig?
Also kein Schlüsselbein. Aber was ist mit der Hinterhand? Dort gibt es doch eine knöcherne Verbindung zwischen Rumpf und Hinterbein?
Richtig, an der Hinterhand sind Bein und Rumpf durch das Hüftgelenk knöchern verbunden. Allerdings sind Aufgabe und Belastung der Hinterhand eine grundlegend andere als an der Vorhand. Die Vorhand ist dafür gemacht, das Gewicht von Kopf, Hals und Rumpf zu tragen und dieses Gewicht in der Bewegung aufzufangen. Wie die Speiche eines Rades leitet sie die Bewegung nach vorne weiter.
Die Hinterhand dagegen ist primär dafür ausgelegt, den Antrieb für die Bewegung zu geben und im Stand das Gegengewicht zu Kopf und Hals zu bilden. Die Hinterhand ist NICHT für das Tragen von Gewicht gemacht. Die Körpermasse an der Hinterhand ist deutlich geringer als an der Vorhand* und die Muskulatur von ihrer Struktur auf Bewegung ausgelegt. Das könnt Ihr denjenigen sagen, die mit andauernd ihrem Pferd schimpfen, weil es hinten einfach keine Last aufnehmen will.
Das Sprunggelenk gibt der Hinterhand zudem im Vergleich zur Vorhand einen zusätzlichen Winkel. Zusammen mit der Hosenmuskulatur und dem Fersenstrang – der Achillessehne – fungiert es als hervorragende Feder, welche die Stöße, die beim Auffußen im Trab oder Galopp entstehen, wunderbar abfedert und energieeffizient für den nächsten Schritt nutzt. Deshalb ist eine gute Winkelung des Sprunggelenks so wichtig, siehe meinen Artikel Was ist eigentlich ein steiles Sprunggelenk.
Die Hosen, welche das Sprunggelenk mit Becken und Kreuzbein verbinden, fungieren meines Erachtens zusätzlich wie eine Art Umleitung, welche einen Teil der Aufprallenergie aufnehmen und an das Sitzbein und von oben an das Kreuzbein und die Schweifwirbel leiten. Das Becken selbst wird durch den Zug der Hosen am Sitzbein gekippt und der Stoß kann über das Kreuzbein in die flektierte Lendenwirbelsäule geleitet werden.
Somit ist das Hüftgelenk vor belastenden Stößen gut geschützt.
Warum haben Menschen ein Schlüsselbein?
Beim Menschen, Affen, Nage- und Klettertieren verbindet das Schlüsselbein Brustbein und Schulterblatt. Einerseits gibt es der Schulter die nötige Stabilität und Mobilität, andererseits dient es wichtigen Muskeln, die Schulter und Kopf bewegen, als Ansatz. Bei dem mehr oder weniger aufrechten Gang eines Menschen eine sinnvolle Einrichtung, benutzt er seine Vorderbeine – bzw. Arme und Hände – ja nicht zum Laufen, sondern zum Greifen, Tragen und Heben.
Für diese Aufgaben ist es extrem hilfreich, wenn die Schulterblätter einen zusätzlichen Halt am Brustkorb haben und nur rein muskulär dort gehalten werden.
Ein Pferd hat zwar kein knöchernes Schlüsselbein, aber eine rudimentäres Sehnenplatte.
Das Pferd hat zwar kein Schlüsselbein, wohl aber als ihr Rudiment eine sehnige Einlagerung im M. brachiocephalicus vorhanden. Der Brachiocephalicus verbindet den Kopf mit dem Oberarm und unterstützt in der freien Bewegung das Vorschwingen des Vorderbeins. Ist der freie Bewegungsfluß gestört, weil der Schub aus der Hinterhand fehlt oder dem Pferd der Kopf durch Zügel oder Ausbinder festgestellt wird, muss der Brachiocephalicus massiv aktiv arbeiten. In extremen Fällen kann dies zu einem Muskelriss in der Gegend des Schlüsselbein-Rudiments führen. Sichtbar ist dann ein deutliches Loch im Hals, dem Lanzenstich. Vermutlich, weil durch die sehnige Einlagerung das Gewebe dort fester ist und das weichere Nachbargewebe unter dauerhafter und starker Belastung größere Kräfte aufnehmen muss. Zu beachten ist aber, dass ein solcher Riss auch immer durch ein Trauma, bspw. durch Ausrutschen oder einen Tritt, entstehen kann; nicht immer ist das Training Schuld. Mehr über den Lanzenstich findet Ihr in diesem Artikel meiner Kollegin Claudia Weingand.
*Bezogen auf den Schwerpunkt des Pferdes auf Höhe der 12. Rippe entfallen ca. 56% des Gewichts auf die Vorhand und 44% Gewicht auf die Hinterhand, Wissdorf et al, Praxisbezogene Anatomie und Propädeutik des Pferdes
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